Das Gymnasium von Eretria
Das Gymnasium wurde Ende des 19. Jhd. entdeckt und teilweise von der American School of Classical Studies at Athens ausgegraben. Es war das Zentrum des sozialen und intellektuellen Lebens der hellenistischen Stadt. Nach einigen Versuchssondierungen der Schweizerischen Schule von 1993 bis 1995 wurde das Monument im Jahr 2003 von Elena Mango publiziert (Eretria XIII). Völlig unerwartet führte die Restaurierung des Gebäudes durch das griechische archäologische Amt (mit europäischer Finanzierung) in den Jahren 2013-2014 zu der Entdeckung eines zweiten Komplexes mit einem identischen Bodenplan, der direkt an das Gymnasium grenzte. Die ESAG hat dieses neu entdeckte Gebäude von 2015 bis 2017 untersucht, um die Funktion dieses Bereichs und die Chronologie seiner Erichtung und Stilllegung zu klären. Eine dritte Palästra wurde bereits im frühen 20. Jhd. in der Nähe des Hafens entdeckt und wird im Jahr 2018 untersucht werden, um die Institution des Gymnasiums von Eretria besser zu verstehen. 2019 wurde eine letzte Kampagne durchgeführt um die Lokalisierung der Laufpisten bei der Palästra des Gymnasiums zu präzisieren. Mit dem Ziel eines umfassenderen Verständnisses der Sport- und Erziehungsinstitutionen des antiken Eretria wurde 2018 auch eine Serie von Grabungsschnitten in der Südpalästra in der Nähe des antiken Hafens angelegt.
Feldforschungen 2015-2017
Ein dreijähriges Grabungsprogramm wurde zwischen 2015 und 2017 unter der Leitung von Guy Ackermann (Universität Lausanne), Rocco Tettamanti (Archäologisches Amt Fribourg) und Karl Reber, Direktor der ESAG, im Gymnasium durchgeführt. Das primäre Ziel war es, die Ausgrabungen auf den neuentdeckten östlichen Teil des Gebäudes auszuweiten und Versuchsschnitte zu öffnen, um Hinweise auf die Datierung des Baus des gesamten Monuments zu finden.
Obwohl die Stratigraphie deutlich erodiert zu sein schien und die archäologischen Strukturen teilweise durch vorhergehende Untersuchungen des Gebäudes gestört waren, erlaubten es diagnostische Funde, die Chronologie des Gebäudes zu verfeinern. Die Grabungen in einem 13,45m tiefen Brunnen ergaben eine reiche Sammlung von Tier- und Menschenknochen, zusammen mit einigen aussergewöhnlichen Entdeckungen, wie die zwei Unterarme einer beinahe lebensgrossen Bronzestatue eines jungen Manns oder die vergoldete Bronzefigurine der ephesischen Artemis. Drei Fragmente von zwei Armen einer überlebensgrossen Marmorstatue kamen in einer Reihe von Räumen südlich des östlichen Hofes zu Tage.
Chronologie und Plan des Gebäudes
Das Gymnasium von Eretria befindet sich auf dem ersten Hang der Akropolis. Es ist eines der seltenen Gymnasien mit zwei Höfen. Der westliche Hof und die dazugehörigen Räume wurden um 330-320 v. Chr. gebaut und blieben bis ins 1. Jhd. n. Chr. in Gebrauch, wenn nicht sogar noch länger. Der östliche Teil war kurzlebiger: Er wurde am Anfang des 3. Jhd. v. Chr. gebaut und scheint im 1. Jhd. v. Chr. verlassen worden zu sein. Die Konstruktion des Gymnasiums steht vermutlich im Zusammenhang mit der Einführung der athenischen Institution der ephebeia in Eretria um 319/8 v. Chr. oder kurze Zeit später. Der Grund für die Organisation mit zwei Höfen liegt wahrscheinlich in deren Nutzung durch zwei verschiedene Altersgruppen. Diese Hypothese wird durch die Entdeckung einer Inschrift mit Erwähnung der neoteroi unterstützt.
Das Gymnasium hatte ein frühhellenistisches loutron mit einer Reihe von sieben verbundenen Steinbecken, die von einer Frischwasserkanalisation für Duschbäder gespeist wurde. Athleten wuschen ihren Körper durch das Bespritzen mit kaltem Wasser aus diesen Becken.
In der späthellenistischen Epoche vervollständigte ein angrenzender Raum im Süden die Infrastruktur mit drei Steinbecken im Boden für Fussbäder. Zur gleichen Zeit wurden zwei exedrae mit Öffnung zur Galerie des Hofes angefügt, um Badeeinrichtungen zu ermöglichen. Sie haben beide den gleichen Plan und die gleiche Ausrüstung: einen Mosaikboden und eine Bank auf drei Seiten, die in der Achse der Rückwand von einer freistehenden Struktur, vermutlich einem Becken, unterbrochen wurde. Das Wasser floss davon in eine Reihe von in den Boden eingelassene Steinbecken vor der Bank. Der Aufbau dieser zwei Bad-Exedren erinnert an das loutron, und sie wurden vermutlich für Duschen und Fussbäder mit kaltem Wasser genutzt. In der griechischen Architektur gibt es dafür keine engen Parallelen. Hinweise auf Heizungsmöglichkeiten wurden in diesen Baderäumen nicht gefunden, aber das Gymnasium stellte einen Dampfraum zur Verfügung. Er bestand aus einem beinahe runden Raum von etwa 10m Durchmesser mit einem Boden aus Terrakottaziegeln und vermutlich einem kuppelförmigen Dach. Es wurde zwar keine Hypokaustum-Anlage gefunden, aber die Brandspuren im Zentrum wurden als Beweis eines Heizungssystems gewertet. Die Absenz jeglicher Wasserversorgung oder Kanalisation weist darauf hin, dass dieser Raum ein trockener Dampfraum oder pyriaterion war, und mit einer Art therapeutischem Bad zu tun hatte.
Weitere Literatur
E. Mango 2003, Das Gymnasion. Eretria XIII (Gollion 2003)
R. Arndt Robert – K. Boukaras – G. Vouzara, New Discoveries in the Gymnasion at Eretria. AntK 57, 2014, 134-141
G. Ackermann – R. Tettamanti – K. Reber et al., Le Gymnase d’Erétrie, AntK 59, 2016, 85-94 / 60, 2017, 126–134 / 61, 2018, 124-129 / 62, 2019, 152-156.
Ackermann – K. Reber, New Research on the Gymnasium of Eretria in U. Mania M. Trümper (eds.), Development of Gymnasia and Graeco-Roman Cityscapes, 2019, 161-179.
Die Laufpisten und das Stadion
Von den diversen athletischen Disziplinen, welche in den Gymnasien praktiziert wurden, konnten einige nicht im Innern der Palästra durchgeführt werden, sondern benötigten grössere Freiflächen. Dazu gehören die Wettrennen ohne Kleider (stadion, diaulos und dolichos), in Rüstung (hoplitodromos) oder mit Fackeln (lampadedromia), sowie der Speer- und Diskuswurf.
Die Existenz einer Paradromis, das heisst einer Laufpiste unter freiem Himmel, ist aus einem Dekret von ungefähr 100 v. Chr (IG XII 9, 234, 1. 33-35) bekannt. Am einen Ende dieser Laufbahn befand sich eine Exedra, die der in der erwähnten Inschrift geehrte Stifter mit einer Marmorbank ausstattete. Die Paradromis muss sich also von der Westfassade der Palästra aus nach Westen in Richtung Stadtmauer erstreckt haben, im Bereich nördlich des Theaters.
Die Existenz einer Paradromis, wörtlich einer « Piste nebenan », weist auf einen Xystos hin, eine gedeckte Laufbahn. Die im März 2019 vom Team von G. N. Tsokas (Exploration Geophysics Laboratory, Aristotle University Thessaloniki) durchgeführten elektrischen Widerstandmessungen haben es erlaubt zwei lange parallele Linien, die eine Struktur von ungefähr 8m Breite und mindestens 160m Länge bilden, genau in jenem Bereich, wo die Paradromis vermutet wurde, zu identifizieren. Da eine offene Laufbahn kaum seitliche Mauern benötigte, dürfte es sich bei den in der Geophysik entdeckten Linien eher um die geschlossene Mauer im Norden und der zur Paradromis im Süden hin offenen Säulenstellung des Xystos handeln.
Das Stadion
Ein Stadion in Eretria ist im «Leben des Menedemos» von Diogenes Laertius (2, 132) erwähnt, der von einem archaion stadion (altes Stadion) schreibt, vielleicht im Bereich der Agora. Dies bedeutet, dass auch ein neueres Stadion existiert haben muss, das vermutlich wie in anderen griechischen Städten beim Gymnasium lokalisiert war. In jener Zone am Fuss der Akropolis hatte C. R. Cockerell ein Stadion auf seinem Plan von 1814 eingetragen. Die bisherigen Sondagen und geophysikalischen Messungen südlich des Gymnasiums scheinen durch die Abwesenheit baulicher Strukturen diese Hypothese zu bestätigen.
Die 2019 unter der Leitung von G. Ackermann südlich der Palästra angelegten Suchschnitte erbrachten weitere Argumente für diese Hypothese. In vier der fünf Sondagen wurde in der Ebene eine homogene horizontale Lehmschicht identifiziert, welche von einer Laufpiste stammen könnte. Zudem wurde in drei der Sondagen ein Wasserabflusskanal aus umgekehrten lakonischen Ziegeln entdeckt. Dieser Kanal befindet sich auf dem gleichen Niveau wie die Lehmschicht und diente dazu das Regenwasser der dahinterliegenden Böschung abzuführen, so dass es nicht auf die Laufbahn floss. Auf jenem Hang also liessen sich die Zuschauer der athletischen Wettkämpfe nieder, genau wie im Stadion von Olympia, das auch nicht über Sitzreihen verfügte.
Die Südpalästra
Im Rahmen der Ausgrabung des Gymnasiums von Eretria wurde auch eine Reihe von Sondagen in der Südpalästra angelegt, um die Geschichte jenes Gebäudes von ebenfalls athletischer Verwendung zu präzisieren. Dieser von K. Kourouniotis 1917 freigelegte öffentliche Bau befindet sich im Südostquartier der antiken Stadt, in der Nähe von Iseion, innerem Hafen und der Stadtmauer. Er verfügt über einen weiten Hof von 22m Seitenlänge, der im Westen und Süden von einem Portikus und im Norden von einer weiten Exedra mit innerer Säulenstellung begrenzt wurde. An der Ostseite befindet sich eine Serie von Räumen unbekannter Funktion, während in der Nordwestecke ein Eileithyia-Heiligtum angelegt wurde. Ziel der Grabungskampagne 2018 war es die Chronologie der verschiedenen Bauphasen zu präzisieren und das Verhältnis des Baus zum Gymnasium, das zu Beginn der hellenistischen Epoche errichtet wurde, zu klären.
In einer ersten Phase, die mit Sicherheit vor den Anfang des 4. Jh. v. Chr. datiert werden kann, bestand der Komplex vermutlich aus drei Säulenhallen im Norden, Süden und Osten. Die Fundamente wurden in einer zweiten Phase wiederverwendet, als die oben erwähnten Säulenhallen im Westen und Süden angelegt wurden und der Nordportikus durch die grosse Exedra ersetzt wurde. Diese Bauphase datiert vor den Beginn der hellenistischen Epoche, es bleibt aber unklar ob sie vor oder gleichzeitig wie der Baubeginn des Gymnasiums um 325 v. Chr. war. Nur eine Funktion als Palästra kann für diese öffentliche Anlage in Betracht gezogen werden, da sie keinem privaten Bau entspricht und auch keine Funde eine kultische Verwendung nahelegen würden.
Im Nordwesten der Palästra wurde ein rechteckiger von einer Mauer umfasster Bereich, der nur von Westen über eine Tür mit Anten erreichbar war, angelegt. Die Entdeckung eines Votivdepots von fast einhundert Miniaturkotylen unter den Fundamenten der Nordmauer erlaubt es, die Anlage ins letzte Viertel des 4. Jh. v. Chr. oder den Beginn des 3. Jh. v. Chr. zu datieren. Eine grosse Basis nahm vermutlich einen Altar, Statuen oder Votivgaben auf, gewidmet der Göttin Eileithyia wie es Inschriften aus diesem Sektor nahelegen. Ein Kult der Beschützerin von Geburt und kleinen Kindern im Bereich einer Palästra erstaunt nicht und findet Parallelen in mehreren anderen griechischen Städten.