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Montag 8 Januar 2024

Ein Tempel von 100 Fuss Länge für Artemis

Das vierte Jahr in Folge arbeitete ein Team von Schweizer und griechischen Archäologinnen und Archäologen im Herzen des Heiligtums der Artemis Amarysia (Griechenland), wo ein Tempel Schritt für Schritt seine Geheimnisse preisgibt. Neue Hinweise zur Architektur, exotische Objekte und Spuren der alten Ursprünge des Kultes gehören zu den bemerkenswertesten Entdeckungen des vergangenen Sommers.

 

Ein archaischer Tempel mit symbolischen Dimensionen

Die Kampagne 2023 im Heiligtum der Artemis in Amarynthos (Euböa, Griechenland) ermöglichte die vollständige Ausgrabung der Überreste eines Tempels aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Das Gebäude hielt für die Archäologinnen und Archäologen eine Reihe von Überraschungen bereit: Sein Grundriss war apsidal, was für diese Zeit recht ungewöhnlich ist, und seine Dimensionen sind grösser als ursprünglich angenommen. Seine Länge betrug 34m, was im griechischen metrischen System 100 Fuss entspricht: Dieses „perfekte“ Mass findet sich auch bei anderen Monumenten aus derselben Zeit.

Tempel von Artemis

 

Opfergaben im Inneren des Tempels?

Eine weitere überraschende Entdeckung waren die Feuerstellen oder Altäre, die sich im Inneren des Tempels befanden und nicht im Freien, wie es in griechischen Heiligtümern oft der Fall war. Auf diesen steinernen Plattformen wurden die den Göttern geweihten Teile der Tieropfer verbrannt. Dicke Ascheschichten, die reich an verkohlten Knochen sind, zeugen davon. Der Rauch, der bei den Opferungen entstand, entwich wahrscheinlich durch Öffnungen im Dach des Gebäudes.

Pressemitteilung

 

Das Forschungsteam

An den Ausgrabungen nahmen mehr als 50 Archäologinnen und Archäologen, Restauratorinnen und Restauratoren, Spezialisten und Spezialistinnen, sowie Studierende aus der Schweiz, Griechenland und anderen Ländern teil. Das Forschungsprojekt in Amarynthos ist eine Zusammenarbeit zwischen der Schweizerischen Archäologischen Schule in Griechenland und der Ephorie für Altertümer von Euböa. Es steht unter der gemeinsamen Leitung von Sylvian Fachard, Direktor der ESAG und Professor an der Universität Lausanne, und Dr. Angeliki G. Simosi, bis Ende 2022 Direktorin der Ephorie für Altertümer Euböas und nun Direktorin der Ephorie für Altertümer von Piräus und den Inseln. Die Feldarbeiten wurden unter der gemeinsamen Leitung von Tobias Krapf und Tamara Saggini von Schweizer Seite sowie Olga Kyriazi von griechischer Seite durchgeführt.

 

 

Schweizerische Archäologische Schule in Griechenland (ESAG)

Die ESAG ist die einzige ständige archäologische Mission der Schweiz ausserhalb der Landesgrenzen. Als interuniversitäre Ausbildungs- und Forschungseinrichtung fördert die ESAG den akademischen Nachwuchs. Jedes Jahr haben Studierende von Schweizer Universitäten die Möglichkeit, an Feldarbeiten und Museumsaktivitäten teilzunehmen.

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Exotische Opfergaben

Ähnlich wie in den Vorjahren brachten die Ausgrabungen dieses Sommers zahlreiche Opfergaben ans Licht: Vasen, Waffen, Schmuck usw. Mehrere exotische Objekte stechen hervor, darunter ein fein gearbeiteter Elfenbeinkopf mit ägyptischen Zügen. Bei seiner Entdeckung war er noch nicht als solcher erkennbar und wurde erst dank den fachkundigen Augen von Tamara Saggini, Co-Direktorin der Grabung, identifiziert. Die sorgfältige Reinigung durch das Restaurationsteam hat nun die einzigartige Qualität ans Licht gebracht

Die lange Geschichte des Heiligtums

Je weiter die Ausgrabungen fortschreiten, desto deutlicher wird die Geschichte des Heiligtums. Brandspuren deuten darauf hin, dass der „100-Fuss-Tempel“ in der zweiten Hälfte des 6. Jh. v. Chr. durch ein Feuer teilweise zerstört wurde. Dank einer provisorischen Umfassung aus Lehmziegelmauern konnte der Kultbetrieb aufrechterhalten werden, bevor der zerstörte Tempel am Ende des Jahrhunderts vollständig durch einen Neubau ersetzt wurde.

In den tiefen Probegrabungen wurden auch Überreste aus früheren Epochen gefunden: ein Gebäude, das aus dem 9. oder 8. Jh. v. Chr. stammen könnte, mehrere bronzene Tierfiguren aus jener Zeit sowie ein Stierkopf aus Terrakotta aus der späten Bronzezeit. Obwohl die Erforschung dieser älteren Schichten noch in den Anfängen steckt, scheinen die bisherigen Funde bereits zu bestätigen, dass der Artemis-Kult in Amarynthos seine Wurzeln in der Vorgeschichte des Ortes hat.

 

Prähistorisches Amarynthos

Das Heiligtum liegt am Fusse eines Hügels, der bereits in der Bronzezeit besiedelt war. Bei Ausgrabungen an seinem Hang wurden imposante Mauern freigelegt, die wahrscheinlich zu einem Befestigungssystem aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. gehören. Später, in mykenischer Zeit (zweite Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr.) ist die Existenz von Amarynthos auch in den Archiven des mykenischen Palastes von Theben, im benachbarten Böotien, bezeugt. Die Überreste des prähistorischen Amarynthos, die zum Zeitpunkt der Errichtung des Heiligtums noch sichtbar waren, trugen sicherlich zur Attraktivität des Ortes bei: Hier gab es genug Stoff für Erzählungen über eine heroische Vergangenheit, wie jene von Homer, nach der die damaligen Griechen strebten.

Das Heiligtum in der antiken Landschaft

Parallel zu den Ausgrabungen wird in der Region von Amarynthos ein umfangreicher Survey durchgeführt. Die Archäologinnen und Archäologen versuchen zu verstehen, wie das Heiligtum in die antike Landschaft integriert war, indem sie die natürliche Umgebung, die Verteilung von Siedlungen, landwirtschaftlichen Flächen, Friedhöfen und Steinbrüchen sowie das Kommunikationsnetz untersuchen. Zu letzterem gehörte eine „Heilige Strasse“, die das Heiligtum von Amarynthos mit der antiken Stadt Eretria verband.

Survey 2023

Nach den Ausgrabungen

Nach mehreren Jahren intensiver Feldarbeit und einer Reihe spektakulärer Entdeckungen ist es nun an der Zeit, die gesammelten Daten auszuwerten. Ein internationales Team von Fachleuten trägt zu dieser Phase der Forschung bei. Ein Archäozoologe und Archäobotanikerinnen, die Tausende von Knochenfragmenten und Pflanzenresten identifizieren, Experten, welche die bei der Ausgrabung entnommenen Schichten unter dem Mikroskop analysieren, Spezialisten und Spezialistinnen für antike Keramik, Architektinnen und Architekten usw.: Die Forschung zu Artemis wird nun im Labor fortgesetzt.

 

ARTEMIS, DER VERLORENE TEMPEL
Der Dokumentarfilm „Artémis, le temple perdu“, unter der Regie von Sébastien Reichenbach, produziert von Climage Audiovisuel, in Koproduktion mit RTS, ARTE une ESAG, is auf Play RTS zu sehen.

Der Film zeigt die Entdeckung des Heiligtums der Artemis Amarysia in Amarynthos, eine der spektakulärsten archäologischen Entdeckungen, die in den letzten 30 Jahren in Griechenland gemacht wurden.

 

Artemis, Der verlorene Tempel